pascal convert

1998 - 2005

Lamento

 

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Lamento est un recueil de cinq textes tirés de l'ouvrage du même nom, édité par le Musée d'Art Moderne Grand-Duc Jean, (Mudam Luxembourg), à l'occasion de l'acquisition du Musée des trois sculptures de Pascal Convert autour de la question de la photographie de presse.

"Des Alts Entsetzen hat dein blaues Aug zerstört!"
Rimbaud

Pascal Convert zeigt den Kreislauf, den ein Bild durch ihn durchläuft, und versucht uns in diesen Kreislauf einzuführen, der selbst in einen Prozess eingeschrieben (sowie durch ihn ergriffen und konstituiert) ist, in dem sich der symbolische Tausch formt, verformt und trans-formiert, der unsere Geschichte gestaltet: in der wir bereits begriffen sind.

Der Prozess, den ein Bild durchläuft, ist der einer psychischen und kollektiven Individuation. Der Künstler führt in diesem Prozess Entnahmen, Projektionen und Öffnungen durch, die er im Spannungsfeld zwischen dem Psychischen und dem Kollektiven erarbeitet und ausarbeitet. Durch seine Arbeit zeigt er, wie die Individuation, also jeder psychische Affekt, als Trans-formation und De-formation der Person, die sich individuiert, Affekt, dessen Erfahrung eines beliebigen (religiösen, aktuellen oder künstlerischen) Bildes für sich steht, wie diese psychische Individuation in den kollektiven Individuationsprozess, von dem sie unterstützt wird und der sie unterstützt, eingeschrieben und durch ihn konstituiert ist.

Das Psychische geht dem Kollektiven weder voraus noch umgekehrt: Diese von Anfang an psychosoziale Verbindung stellt eine Beziehung dar, die Simondon als transduktiv bezeichnet hat, das heißt, die Elemente der Beziehung werden durch die Beziehung bestimmt, wobei das eine nicht ohne das andere existieren kann.

Wenn ich ein Bild sehe, individuiere ich mich (das ist die Bedeutung von sehen), oder ich sehe es nicht, oder ich desindividuiere mich gar, das heißt, indem ich es betrachte, werde ich blind, was einen Grenzfall der Individuation darstellt und auch und vor allem das Kernproblem unserer Zeit (1): Eben dieses Problem bewegt Convert, das er das Waisenhaus der Bilder nennt und aufgrund dessen er sich angesichts der Piéta des Kosovo : fragt: „Was tust du eigentlich?"

Wenn ich heutzutage ein Bild betrachte, individuiere oder desindividuiere ich mich innerhalb eines Individuationsprozesses (der zu unserem Unglück auch ein Desindividuationsprozess geworden ist), dessen Bild genau das ist, ein Bild: ein Ausdruck desselben, eine imago an sich. In den Ländern der westlichen Welt handelt es sich bei diesem Prozess um den der Geschichte des Okzidents, welche der Geschichte des Monotheismus entspricht (wobei der Islam dessen östlicher und südlicher Rand, mediterraner Gürtel und Grenzregion zu Asien ist: Der Islam ist der Okzident, er ist der östliche Teil des Okzidents). Kein Bild, das sich außerhalb einer solchen histori schen Affektion befindet, über mich hinauswächst und sich mir daher entzieht, kann mich je bewegen.

Dieses über mich hinaus wachsende Entziehen, das den von Blanchot benannten „Schwindel des Herausreißens" (le vertige de l'arrachement) hervorruft und die Ebbe und Flut der Zeit und wie das Schlagen der historischen Uhr selbst ist, ist dieser Affekt selbst, sofern er im kollektiven Individuationsprozess den Prozess einer inneren Resonanz erzeugt, wie das Beben, durch das das Kollektiv nicht nur entsteht, sondern geschieht und durch das die psychischen Individuen mit ihm zu dem werden, was sie als geschehene und transduktiv konstituierte Singularitäten sind.

Diese transduktiven Singularitäten sind para-dox (am Rande jedwed ~ r d6xa und dadurch unvorhergesehen), weil sie zwar einzigartig und nicht miteinander vergleichbar sind, aber dennoch durch die Beziehung, in der sie sich herausbilden, als Elemente dieser Beziehung konstituiert werden, die sie eben als diese Elemente hier konstituiert, wobei jedes Element der Beziehung, die es mit den anderen verbindet, unvergleichlich ist, sofern es sich individuiert. Aus diesem Grund definiert Simondon diese Beziehung als Spannung und damit auch als einen Affekt. Und zwar als den Affekt eines von Natur aus unvollendeten und somit un-endlichen lndividuationsprozesses (dessen Spannung nur auf Kosten der Zerstörung des Individuationsprozesses selbst gelöst werden kann).

Kurzum, die Transduktion ist diese sehr eigenartige Beziehung, die unvergleichliche Dinge miteinander verbindet - die also nicht miteinander verbunden werden können. Mit anderen Worten, die Transduktion ist dynamisch: Sie ist keine statische Beziehung und die unmittelbare Konsequenz der intrinsischen Unfertigkeit des Individuationsprozesses (sobald er abgeschlossen ist, findet nämlich keine Individuation mehr statt).

Diese Dynamik und ihre Fremdartigkeit ergeben eine Art Rätsel, das Simondon beispielsweise annehmen lässt, es sei nicht möglich, die Individuation zu beschreiben, ohne zu ihrer Individuation beizutragen, ohne sie zu trans-formieren, mit anderen Worten, ohne dass es dazu führt, dass das Beschriebene dadurch verändert wurde, dass man es beschrieben hat, und eben dadurch nicht beschrieben wurde, wenn nicht als ein bereits längst vergangenes Stadium: Man kann eine Individuation unmöglich eifahren (und genau das bezeichnet man als Rätsel).

Ein solches Rätsel ist das des Mystizismus. Es ist auch das der Kunst. Es ist das Rätsel der Transindividuation, dessen theologisch-metaphysische Bezeichnung die Transfiguration ist und das sich dennoch zumindest im Okzident durchjedwede bildliche Darstellung zieht.

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Das Werk der Kunst intensiviert diese Beziehung (diesen Affekt) ganz besonders, sofern daraus eher eine zugleich psychische und kollektive Individuation, das heißt, eine Bekräftigung der Singularitäten, die sie miteinander verbindet, als ihre Desindividuation (ihre Partikularisierung vergleichbarer Unbekannter) resultiert. Der Künstler ist der sich lndividuierende schlechthin, so dass das, was ihn psychisch bewegt, die kollektive Individuation seiner Zeitgenossen durch die Art, mit der er diesen Affekt auf geheimnisvolle Weise seinem Ursprung, nämlich der prä"individuellen Natur des Psychosozialen, zurückgibt, intensiviert und beschleunigt.

Diese präindividuelle Natur ist das, was den psychischen Individuen (den Ichs) mitgegeben wird, die dadurch ein Wir bilden (ein kollektives Individuum, bei dem es sich um einen dynamischen Prozess handelt, der unentwegt neue Individuen einbezieht und sie durch den symbolischen Tausch aufnimmt, der in diesem stattfindet), und das mithilfe symbolischer, transgenerationeller Organisationen wie Sprachen, Religionen, Gesetzbüchern, Artefakten im Allgemeinen - darunter die Werke selbst, die der Kunst ebenso wie die des Geistes.

So wie er ihn zurückgibt, indem er ihn trans-formiert, transindividuiert der Künstler den Individuationsprozess und ruft ihn eben dadurch und ganz besonders als psychischen und kollektiven lndividuationsprozess und gewissermaßen als Ganzes ins Leben. Dazu kommt es, weil die Individuation des Künstlers, der sich durch das individuiert, was durch sein Werk geöffnet wird, auch und immer schon über seine enge Psyche hinaus das ist, was sich darin als die entsetzliche und endlose Landschaft der Zeit spiegelt - die der Brunnen ohne Grund und ohne Ursprung der Individuation, ihre Ebbe und Flut und ihr Sog ist.

Aber diese Spiegelung ist eine Trans-formation - eine Individuation als Verzeitlichung, die sich öffnet, indem sie den Raum des Individuationsprozesses erarbeitet und ausarbeitet: Als treibende Kraft einer Transindividuation ist der Künstler ein Transduktor des Individuationsprozesses, und in diesem Sinne steht uns die Arbeit Pascal Converts gegenüber.

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„Ein Bild überlebt uns", sagt er, das bedeutet, ein Bild stützt die präindividuelle Natur des Prozesses, dem es angehört und der, da er ihnen gemein ist, der psychischen und sozialen Individuation als das vorangeht, was sie zugleich verbindet und trennt, und somit die Bedingung ihrer transduktiven Beziehung, ihrer Trans-duktivität darstellt. Denn die Bilder befinden sich zwischen den Singularitäten, die sich in ihnen wie der Raum und die Zeit ihrer Begegnung spiegeln, so wie sie noch in der Zukunft stattfinden wird.
Als „Bild" bezeichne ich hier jedes Objekt, das der präindividuellen Natur entstammt und ihr, wenn ich so sagen darf, entwachsen ist - wie ein aus den Schlachtfeldern von Verdun gerissener Baumstumpf-, insofern, als jedes Objekt dem Subjekt nur das entgegenhält, was dieser darin erkennen kann.
Convert arbeitet auf der Grundlage der Idee und der Erfahrung dieses Über-Lebens. Ein Überleben, das Über-Sterblichkeit ist: die Überwindung ohne Gott - für uns, die wir noch nach Gottes Tod weiterleben - des Widerstreits zwischen Leben und Tod, das heißt, zwischen dem Toten und dem Lebendigen. Genau darum geht es.

Das mentale Bild hat schon immer die Vorstellungswelt gebildet, aber es hat nie ein mentales Bild ohne ein Bild-Objekt (image-objet) gegeben - und daher hat sich das Bild in der abendländischen und christianisierten Welt auf diesem ursprünglichen Hintergrund des Überlebens letztlich als Kunstgeschichte konstituiert, womit hier zwangsläufig christliche Kunstgeschichte gemeint ist. Nicht dass es nur christliches Kunsterleben gäbe, aber insofern, als die große Trennung von Form und Materie, die die griechische Metaphysik seit Platon vorgenommen hat und die diesen dazu veranlasst, Körper und Geist einander gegenüberzustellen, auch die paulinische Rezeption dieses Problems der Seele und des Körpers, also des Lebens und des Todes, bis heute gestaltet, da wir immer noch genauso als „Pauliner" darüber denken (indem wir Geist und Materie einander gegenüberstellen). Die Kunst hat sich auf der Grundlage der präindividuellen Natur der göttlichen Bilder, die insofern göttlich sind, als sie diese Gegensätze projizieren und gestalten (da sie alle aus dem Monotheismus hervorgegangen sind, der die Seele und den Körper, das heißt das Leben und den Tod, einander gegenüberstellt), selbst als Kunst, das heißt als Geschichte erdacht.

Eine derartige Trennung entspricht dem Entsetzen, das wir angesichts des Todes verspüren. Denn es gibt gewiss keinen anderen Zugang zu dieser anderen Ebene, nämlich der des vollendeten Todes, auf der sich der Tote und die Toten aufhalten und deren Göttlichkeit nur ein Wort außerhalb der Erfahrung der Unfassbarkeit des Ablebens und dessen ist, was sich dort infolgedessen im Übermaß konstituiert: über die Unabwendbarkeit der Sache hinaus und als seine Notwendigkeit an sich.

Pascal Convert arbeitet in dem Geflecht, dem Netz und in gewisser Weise in der Falle dieser Fragen, so wie sie sich undurchschaubar miteinander verbinden und uns durch eben diese Verflechtung und wie ein Labyrinth beunruhigen, indem er religiöse Bilder und Fernsehbilder miteinander verbindet.

Bei der Pietá des Kosovo, so erklärt er, handelt es sich um das Pressefoto eines muslimischen Ritus, den wir als christlich ansehen. Das ist die wahrhaftige Struktur der Intentionalität, so wie sie die Phänomenologie zum Vorschein kommen lässt, und zwar dass alles, was einem Bewusstsein widerfährt, seinen Ursprung in diesem Bewusstsein hat, und dass dieses Bewusstsein das, was ihm widerfährt, nur in sich selbst findet, so als wäre es sein „Schon-da" (deja-la). Doch wir sagen wie Simondon, dass dieses „Schon-da" einen psychischen und kollektiven lndividuationsprozess darstellt, wobei dieses „Und" das Selbst öffnet- das bedeutet auch, dass es sich nicht mehr einfach nur um das Bewusstsein handelt, sondern tatsächlich um das Unterbewusstsein.

Im Falle des muslimischen Ritus, den wir als christlich ansehen, ergeben sich zugleich zwei Probleme: Zum einen projizieren wir das darin Gesehene selbst hinein, zum anderen offenbart diese Projektion aber gleichzeitig einen gemeinsamen Ursprung des Islam und des Christentums sowie ihre entfernte, aber umso tiefere Zugehörigkeit zum selben psychosozialen Individuationsprozess, selbst wenn diese Wurzel durch den Zorn Gottes verkohlt und in gewisser Weise tödlich getroffen wurde, wie die Baumstümpfe, die Convert in den ehemaligen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs ausgräbt.

Die Struktur der Intentionalität beruht auf der Tatsache, dass das, was ich dem Leser dieser Zeilen gerade sage, er selbst sagt: Alles was ich schreibe, erfindet mein Leser selbst in dem Sinne, wie man früher von der Auffindung des Heiligen Kreuzes gesprochen hat: Er findet es (wieder) in sich selbst. Ich erwarte alles, was mir widerfahrt - und gleichzeitig widerfahrt es mir wie etwas völlig Unerwartetes und das ganz zufällig: durch ein Artefakt, eine Kunst, und zwar die Kunst, die Proust sagen lässt, die Arbeit des Schriftstellers bestünde lediglich darin, seinem Leser zu ermöglichen, in sich selbst zu lesen. Mit anderen Worten gibt es verschüttete, vergrabene und somit unerwartete, verdrängte, unterdrückte Erwartungen, weil eine bewusste, kollektive Verdrängung stattfindet, es also Ur-Traumata gibt, die Mechanismen transindividueller Verdrängungen herbeiführen. Und das Werk-Prousts oder Converts-öffnet dies alles, hebt und gräbt es aus und hält somit einen Prozess an, unterbricht das ldentischsein mit sich selbst einer Individuation, gräbt dieses Selbst wie einen ganz nahe stehenden Anderen, das heißt wie eine Singularität aus, die mannigfaltiger ist als jegliche Identität.

Das Selbst ist ein Horizont unerwarteter Erwartungen, der aus Proto- und UrErwartungen und dem Unerwarteten, das sie spannt , besteht, denn eine Erwartung ist eine Spannung, die gänzlich gespannt und dennoch manchmal sehr entspannt (großzügig) ist. Dieses Unerwartete, durch das sie gespannt werden, verleiht sowohl psychische als auch kollektive individuationsenergie: die Energie eines Selbst, das sich in Kreisläufe einlässt. Das ist die apn·orische - oder „schrecklich alte" (noch einmal Blanchot) - Bedingung der Möglichkeit dessen, was Foucault eine „Selbst-Schreibung" (ecriture de soi) nennt, die als Grundlage für die „Beherrschung des Selbst und der anderen" (gouvernement du soi et des autres) gedacht ist.

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Derartige „Kreisläufe", die auch diejenigen des von mir als Exklamation (2), Bezeichneten sind und die Schleifen oder noch genauer Windungen bilden, bilden sich unter den Bedingungen dessen, was ich als organologische Epochen definiere.

Doch es gibt eine Epoche, in der sich die Ikonologie des Monotheismus auf einmal mit den Fernsehnachrichtenbildern verbindet, und es ist dieser so einzigartige und für alle singularitäten bedrohliche Kreislauf, den Pascal Convert durchläuft.

Diese Epochen sind die eines Individuationsprozesses des Sinnlichen, des Körpers im Verhältnis zu anderen Körpern, der mithilfe von Artefakten soziale Körper hervorbringt und dadurch Symbolcharakter hat. Dieser Prozess ergibt im Laufe von Hunderttausenden von Jahren eine Genealogie des Sinnlichen, die aus einer Folge von Entfunktionalisierungen und Refunktionalisierungen sowohl der körperlichen Organe und Apparate, einschließlich der Sinnesorgane, als auch der Techniken und Systeme, die sie herausbilden, sowie letztlich der sozialen Organisationen besteht, die ununterbrochen neu konfiguriert werden - und das nennt man Geschichte.

Das alles hat Freud bereits erwogen, wenn auch nur in sehr verkürzter Form: Er geht davon aus, dass für die Herausbildung der Libido der aufrechte Gang, Ursprung der Hominisation, grundlegend ist, der selbst eine Entfunktionalisierung des Geruchsinns und seine Refunktionalisierung im Wechselspiel mit dem Sehorgan darstellt. Freud nennt dies eine organische Verdrängung.

Allerdings lässt Freud in dieser Frage die techne völlig außer Acht und somit auch, dass die Zirkulation der libidinösen Energie, ohne die es selbstverständlich überhaupt keine Energie gäbe, eine technesis voraussetzt.

Die Epochen dieser allgemeinen Organologie, in denen sich die Beziehungen zwischen beseelten Körpern, Artefakten und sozialen Organisationen unentwegt neu definieren und neu verteilen, stellen Episoden einer Geschichte dar, die allesamt zu neuen Epochen führende katastrophai (im Sinne von Denouements) sind. Doch wir erleben eine sehr einzigartige katastrophe: Sie stellt die Unterbrechung des Kreislaufi an sich dar, das heißt, die Auflösung sowohl der libidinösen Ökonomie als auch der Desindividuation.

Converts Werk verkörpert dieses Leiden sowie das der Wurzel unter dem vom Blitz getroffenen Stamm. Er, der sich ein Waisenkind der Bilder nennt, betrachtet die Bilder, gibt sie uns zurück und zeigt uns, dass man, um ein Bild zu sehen, sie zeigen können muss: Man muss sie zurückgeben können. Und zwar dem Selbst.

Ein Waisenkind der Bilder zu sein, bedeutet, ein Waisenkind der Welt zu sein, sagt er: die Bilder zurückzugeben, bedeutet, die Welt vorstellbar zu machen und sie der Welt zurückzugeben, in der das Selbst sein kann. Convert sucht die Welt. Er versucht, die Welt der Welt zurückzugeben. Er ist Künstler. Ein Mann der Kunst. Und ein entsetzter Mann. Er ist der Mann einer entsetzten Kunst.

Wir alle kennen dieses Bedürfnis, nach einer Kinovorstellung, einem Konzert oder einem Theaterstück aus uns herauszugehen und unsere Affektion, unser Betroffensein zu übermitteln, und wie ansteckend dies auch manchmal sein und welche böse Wendung es nehmen kann, da es Gerede verursacht und die Affektion zugunsten der Aussage, des Ausdrückens verdrängt.

Dies ist eine Modalität der Exklamation, die nur ausgehend von der Bedingung einer technischen und artefaktischen Äußerlichkeit möglich ist: Am Anfang der Genealogie des Sinnlichen steht ein Veräußerlichungsprozess, der das ständige und unaufhörlich neu konfigurierte Fundament aller Ausdrucks- und somit aller Existenzformen darstellt - denn existieren bedeutet ausdrücken und damit auch Spuren hinterlassen. Es bedeutet experimentieren.

Was diesen exklamatorischen Trieb anbelangt, weist der Künstler ein völliges Übermaß auf. Und die Politik kanalisiert diese Exklamationen. Auf diese Weise bildet sich der Transindividuationsprozess heraus - und damit ist der Horizont des Mannes der Kunst unweigerlich politisch: Es ist sein politisches Schicksal, die seinen Trieb auf die Ebene der Begierde, und zwar einer erhabenen Begierde, hebt.

Doch was öffnet ein Werk? Und auf was? Das Werk übermittelt keinen „Inhalt", aber eine Erfahrung, die eine Prüfung ist und das Ziel einer Korrektur von Prüfungen verfolgt: eine Erfahrung, sofern sie immer noch in der Zukunft liegt. Das Werk öffnet die Zukunft. Ist eine derartige Aussage nicht banal? Sie wäre es tatsächlich, würde man nicht noch mehr über den Aufbau dieser Zukunft, über die Natur der Zukunft sagen, die sich durch ein Werk öffnet, die in einem Werk wirkt.

Das Werk öffnet ein Künstlersein, das heißt eine Seinsart, genauer gesagt stellt es als Öffnung das Aktivwerden dieses Seins als eine Existenzart dar, bei der existieren werden bedeutet, aber bei der das Werden in ein Zukünftiges trans-formiert werden muss, also in ein Selbst. Das Selbst ist das Dasein (3) als Erfahrung, und das Werk öffnet darin zunächst das Künstlersein des Künstlers selbst als Mann der Kunst.

Der wirkende Künstler öffnet sich, und er öffnet sich, weil er zuallererst wie wir alle, so wie wir sind und so wie wir nicht unmittelbar das sind, was wir sind, dazu neigt, sich dem zu verschließen, was in ihm, so Artaud, „Schläge in alle Richtungen" verteilt, und das durch uns alle wirkt, sofern wir uns nur dadurch zusammenschließen, dass wir ein solches „wir alle" bilden - potenziell, wenn nicht aktiv. Juristisch, wenn nicht tatsächlich

Daraufhin öffnet das Werk das Künstlersein seines Adressaten, der nur potenziell Künstler ist, den das Werk aber, wenn er sich ihm öffnet, wenn er im Begriff ist, sich ihm zu öffnen, für das öffnet, was in ihm dem entspricht, was zum Künstler und vom Künstler durch das kam, was sein Werk öffnete. In dieser Weise geöffnet wird der Adressat eine Zeit lang aktiv, und zwar für die Dauer des Werks und so lange es ihn berührt. Doch dieses Aktivwerden ist eine zugleich psychische und kollektive Individuation des Ich, also des Adressaten, und des Wir, das er mit dem Künstler und durch ihn mit dem Prozess bildet, .n dem sie ihren Ursprung haben und sich zusammen-schließen.

Die Übermittlung, die ein derartiger Kreislauf des Offenen und im Offenen darstellt, ein Kreislauf, den es also i'edes Mal wieder von neuem auszuheben zu formen zu durchdringen, zu erobern, zu trans-formieren und aktiv werden zu lassen gilt, ist die transgressive, also trans-formatorische Übermittlung einer Autonomie, die als Macht und als Akt, sich sein eigenes Gesetz als das wahre Gesetz des Selbst zu geben, verstanden wird. Kurz gesagt, es ist die Prüfung und der Beweis - aber immer durch Mangel, wie wir seit Kant wissen - an Singularität.

Die Singularität ist das Objekt der Begierde selbst und nicht einfach nur der Unterschied: Ein Unterschied lässt sich lediglich in Bezug auf eine Identität und in einem innerhalb dieser Identität gezogenen Vergleich begreifen, während das Einzigartige unvergleichlich ist.

Zu der Zeit der entsetzten Kunst Pascal Converts wird dieses Objekt der Begierde strukturell vom gegenwärtigen, organologischen Kreislauf bedroht, in dem die Energie nur noch auf explosive, mörderische und terroristische Weise zirkuliert, ganz gleich, obes sich nun um westlichen Staatsterrorismus oder um den Terrorismus geheimer, fundamentalistischer Bewegungen handelt, und das ist das Gift, das der Individuationsverlust, also die von den Medien des „kulturellen Kapitalismus" herbeigeführten Kurzschlüsse der Bilder, hervorbringt.

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So verhält es sich mit dem Krieg der Bilder, die die Individuation kurzschließen und zur Explosion bringen, einer Explosion, die jedoch auch die Selbstzerstörung des Kapitalismus oder, wie Derrida sagte, ihre Autoimmunkrankheit ist: Dieses symbolische Elend ist die Verflüchtigung der libidinösen Energie, ohne die es keinen fndividuationsprozess gibt, obwohl der Kapitalismus sich hauptsächlich eben dieser Energie bedient, sie aber wie alle Energien, die er anzapft, letztlich aufbraucht.

Kurz gesagt, es ist die Probe aufs Exempel, um die es heutzutage in einem großen Kampf geht: dem Kampf der Transindividuation, also der Trans-formation des Werks als Transgression und seiner Rekonfiguration unter neuen organologischen Bedingungen, bei der es darum geht, im Selbst möglichst schnell eine Neuorganisation des Sinnlichen zu erfinden ifinden). Ebenso eine neue Politik. Sagen wir auch, eine neue „ästhetische Teilhabe".

Das potenzielle Künstlersein, das wir alle und jeder für sich wären, und die Rolle des Transfigurators, die der Künstler in Aktion inne hätte, sofern er in einem einzigartigen Bereich der sinnlichen Wirklichkeit derjenige wäre, der eine bestimmte Erfahrung, eine bestimmte Prüfung gemacht hat - so wie manche eine lange Reise, ein curriculum, eine Rundfahrt gemacht haben-, was ihm die Macht desjenigen verleiht, der einen Schlüssel hat, den sonst niemand besitzt, aber damit andere selbst diese Prüfung zwar nicht andauernd, aber ab und zu in den zeitlichen Intervallen machen, in denen sich die Erfahrung der Werke formt und trans-formiert, dieses potenzielle Künstlersein, das wir alle sein werden, sofern wir zum Werk vordringen, ähnelt der Methodik der Psychoanalyse, bei der der Psychoanalytiker dem Gedankengang des zu Analysierenden lauscht, während er ihn lediglich das durchleben lässt, was nur von ihm selbst kommen kann, sofern er auch der andere (lui-l'autre) und von dieser von ihm verdrängten Alterität entsetzt ist.

In der Kunst des Mannes der Kunst lässt diese Prüfung das aktiv werden, was für diesen potenziellen Künstler, so wie wir alle einer sind, jene Bereich der Sinnlichkeit darstellt.

Das Aktivwerden, also das Werk, so wie wir ihm begegnen, angefangen mit dem Künstler, der es erarbeitet, ist also eine Öffnung, ein Durchgang. Das Werk bezeichnet diese Öffnung als Erweiterung des Sinns, das heißt als Trans-formation des Sinnlichen, also als Entfunktionalisierung und Refunktionalisierung des Sinns als Organ und des Sinns als Semiose und als Folge davon, das heißt durch Transindividuationen, der Artefakte und der sozialen Organisationen, einschließlich der Fernsehorgane, was den Gegenstand einer allgemeinen Organologie als eine Gesamtheit von Übermittlungskreisläufen konstituiert.

Diese Frage stellt sich heute jedoch ganz besonders und auf tragische Weise, weil das, was ich mit Nicolas Donin als einen maschinistischen Wendepunkt der Sinnlichkeit analysiert habe, einen (sowohl ästhetischen als auch politischen) Partizipationsverlust erzeugt, der die Kreisläufe durchbricht, Kurzschlüsse verursacht und schon bald durch die Zerstörung der Libido Unruhe stiften wird - das heißt durch die Befreiung der reinen Triebe (da die Libido als Bindeglied dieser Triebe sie unrein werden lässt, indem sie ihnen ihre Zusammensetzung aufzwingt).

Und somit liegt heute die Erkrankung der Psyche vor - wobei die Psyche selbstverständlich an sich krank ist: Die Psyche ist die Krankheit, das heißt die Beziehung zum Bösen (zum Schlechten, zum Hässlichen und Paischen, also zum Psychischen an sich).

Die Krankheit des Psychischen ist ihre Dynamik. Deshalb pendelt das Psychische unentwegt zwischen dem Aktivwerden und dem Regress zur Macht (4), zwischen der Erhebung zu seinem Motiv, zum Objekt seiner Begierde, und dem Regress zu den Trieben, die dieses Motiv untermauern, hin und her. Doch damit sie zur Gesundheit wird, muss man sich dieser Krankheit annehmen, sie also einer Heilung unterziehen. Und jede Heilung ist eine Art Kult, das heißt eine Praxis: Die Transindividuation, die den Kreislauf der psychosozialen Individuation bestimmt, setzt die Grundsätze einer Praxis voraus, wobei sich hier die Frage nach der Partizipation stellt.

Ich habe diesen Punkt ausführlich entwickelt5, indem ich mich sowohl auf die Frage der Partizipation am Göttlichen beziehe, die für Aristoteles das Aktwerden der noetischen Seele dort, wo sie sich öffnet, bedeutet, als auch auf die Theorie, die der folgenden Äußerung von Leroi-Gourhan zugrunde liegt:

Ich habe diesen Punkt ausführlich entwickelt (5), indem ich mich sowohl auf die Frage der Partizipation am Göttlichen beziehe, die für Aristoteles das Aktwerden der noetischen Seele dort, wo sie sich öffnet, bedeutet, als auch auf die Theorie, die der folgenden Äußerung von Leroi-Gourhan zugrunde liegt:

Um zu fühlen, muss man teilnehmen.

Das Religiöse, das Magische, das Politische an sich, die Kunst, die Philosophie, die wissenschaftlichen Disziplinen, all das sowie das, was Werke des Geistes hervorbringt, die nach uns weiter bestehen oder vor uns bestanden haben und uns dem Prozess unserer psychosozialen Individuation öffnen, sind verschiedene Möglichkeiten, sich des Psychischen anzunehmen, damit sich das Psychische auf den unterschiedlichsten Wegen neu erfindet und transformiert und sich auf diese Weise selbst heilt, wie bei den Psychoanalytikern - aber als Soziales und als das Soziale, sofern es eine Einheit bildet, solange es wirkt. Und sofern das Psychische somit auch das Kollektive ist, stellt diese Behandlung eine Politik (eine Partizipation an der individuation eines Selbst) dar.

Nur so, und wenn sein Schicksal kollektiv ist, kann das Psychische ein Kunstwerk erleben: Das Werk hilft ihm, sich zu öffnen, das heißt, sich selbst zu heilen, nicht endgültig von dem Sich verschließen krank zu werden, eine Prüfung, durch die es auf sich, aber auch auf das Selbst zurück verwiesen wird, das heißt auf die Öffnung des Selbst, sofern dieses Selbst eben nicht sein Ich ist und das Wir immer schon in dem Wir alle über das faktische und vollendete Wir hinausgeht, das hier und jetzt (als Identität) existiert, dessen Verheißung Singularität) die Kunst ist.

Das Werk erschließt das Selbst und zwar ein Selbst, das nicht das Ich, aber viel weiter gefasst und in die psychosoziale Individuation eingeschrieben ist, und darüber muss man heutzutage mit Blick auf die kränkelnden Institutionen nachdenken, die sich eigentlich darum kümmern müssten.

Wenn ich zum Beispiel (im Januar 2005) in Teheran den Tod Gottes grundsätzlich mit der Geburt der modernen Kunst in Verbindung gebracht und die These vertreten habe, dass es erst seit Gottes Tod eine Modernität der Kunst geben kann, und wenn ich ganz allgemein beschreibe, was das Schicksal der zeitgenössischen Kunst mit dem Kapitalismus verbindet, stellt sich unterschwellig die Frage, wie das alles durch ein System miteinander verknüpft ist, das von dieser allgemeinen Organologie, die ich bereits erwähnt habe, abhängig ist, sofern sie Übermittlungs- und Individuationskreisläufe konstituiert, die auch die der sublimierten, libidinösen Energie sind und in denen sich ein Selbst bildet, das die verschiedenen Modalitäten aller Behandlungen in der Halluzination ein und desselben Motivs, ein und desselben Motors, also eines Verlangens nach sich selbst und des Selbst zusammenbringt.

Das, was ich auch die Frage der Beschaffenheiten und der Erhabenheiten nenne, ist das, was im Nihilismus völlig fehlt und worauf wir achten müssen: und zwar zu lernen, uns der Dinge anzunehmen, indem wir neue Kreisläufe, also sowohl Konjunktionen als auch Disjunktionen, konstituieren, die ein neues Geflecht für andere Motive bilden - wobei Motive hier auch im Sinne von Beweggründen gemeint sind, weshalb eine neue Kritik der Vernunft erforderlich ist, aber einer Vernunft, die nunmehr ganz und gar von der Frage der Begierde und ihrer Krankheiten, den Trieben, bestimmt wird, woran Kant noch nicht denken konnte.

Les Exercices spirituels d'Ignace de Loyola disent la nécessité de faire par soi-même l'épreuve de la présence de Dieu contre une tendance à la régression qu’Ignace appelle le démon ou la tentation. Les Exercices sont un tel soin, et un écho tardif de l’écriture de soi par la pratique des hypomnémata. Dans les sociétés traditionnelles où il n’y a pas de religion révélée, un mythe d'origine suppose un rite d'initiation. Mais dans tous ces cas, il y a cure, c’est à dire soin pris aux âmes en tant que le mouvement des corps : en tant que leur désir. Dans les sociétés modernes, avec la psychanalyse, il faut que celui qui transmet (qui rend) soit passé par une épreuve qui l'a rendu apte à cette transmission, c'est à dire à faire en sorte que l'autre apprenne les ex-ercices (de exercere, mettre ou tenir en mouvement) sans que l'on se substitue à l'autre pour lui dire ce qu'il doit penser, et tel est précisément l’enjeu des exercices.

Die geistlichen Exerzitien oder Übungen des Ignatius von Loyola drücken die Notwendigkeit aus, selbst die Anwesenheit Gottes zu erfahren entgegen einer Regressionstendenz, die Ignatius den Dämon oder die Versuchung nennt. Die Exerzitien sind eine solche Zuwendung und ein spätes Echo der Selbst-Schreibung durch die Praxis der Hypomnemata. In den traditionellen Gesellschaften, in denen es keine Offenbarungsreligion gibt, setzt ein Ursprungsmythos einen Initiationsritus voraus. Sie alle verfügen jedoch über Heilung, das heißt, man nimmt sich der Seelen als Bewegung der Körper, als ihre Begierde an. In den modernen Gesellschaften, in denen die Psychoanalyse angewendet wird, muss derjenige, der übermittelt (der zurückgibt) etwas durchlebt haben, das ihn zu dieser Weitergabe befähigt bzw. ihn in die Lage versetzt, den anderen dazu zu bringen, die Exerzitien (von exercere, in Bewegung setzen oder halten) zu lernen, ohne dass er seinen Platz einnimmt und ihm sagt, was er denken soll. Genau darum geht es bei den Übungen.

Darauf beruht auch die Sokratische Methode, und das, was auf die im Entstehen begriffene Philosophie zutrifft, trifft „bei gleich bleibenden Bedingungen" auch im Monotheismus insbesondere auf die Heiligen als religiöse Vorbilder zu. Denn wenn man die Dinge selbst tun muss („Was tust du eigentlich?"), damit sich ein Kreislauf öffnet- es ist ein Abschnitt des Kreislaufs, der ihn also solchen konstituiert, und dem entsprechen die Techniken des Selbst, die in Foucaults Untersuchungen auf den Hypomnemata beruhen, gibt es Therapien, zu denen die Religion zählt, die es ermöglichen, zusammen mit den Beichtvätern und den anderen Figuren der Kreisläufe des Selbst als psychosozialer Individuation sich solidarisch zu zeigen, zu unterstützen und psychische Hilfe zu entwickeln. Sobald wir über die Transindividuation nachdenken, vor allem, da sie in der Kunst angesiedelt ist, müssen wir uns mit einer Geschichte des Religiösen (denn die Kunstgeschichte ist in erster Linien die der religiösen Kunst) als einer Organisation psychischer Hilfe befassen, die auch eine soziale Hilfe, eine Hilfe zur Individuation in Form von Sozialisation ist.

Und wir müssen sie heute, da das Psychische so schwer erkrankt ist, als Problem des ästhetischen, aber auch und untrennbar damit verbunden des politischen Partizipationsverlusts genau untersuchen.

Die Ur-Krankheit des Psychischen ist seine grundlegende Melancholie (die von dem entsetzlichen, ursprünglichen Makel seines Ursprungs herrührt: von seiner technischen Beschaffenheit, seiner prothetischen Natur, seiner Künstlichkeit usw.), sein Hang, sich von den Launen beeinflussen zu lassen, denen es letztendlich seine Sterblichkeit verdankt (dass ich nur höre, was ich erwarte, und dass ich alles, was mir widerfahrt, selbst verursache, wird offensichtlich, wenn man schlecht gelaunt ist und, wie es so schön heißt, „alles nur noch schwarz sieht"). Heutzutage gibt es jedoch bestimmte Leiden, die dadurch verursacht werden, dass sich die Begierde, die der Weltkapitalismus als Primärenergie industriell nutzt, auf das Niveau des Triebhaften zurückentwickelt hat.

Wenn sich die Melancholie, die schwarze Galle, die schlechte Laune meiner bemächtigt, liegt das daran, dass meine libidinöse Energie nicht mehr zirkuliert: Ich kann nicht das werden, was ich bin, das Selbst kann nicht mehr durch mich hindurch fließen: Mir bleibt etwas quer im Halse stecken, etwas, das ich manchmal seltsamerweise als meine Lymphknoten bezeichne, das mich leiden lässt und mir die Luft abschnürt.

Ich individuiere mich nicht mehr und individu.iere somit auch die Gruppe nicht mehr: Ich befinde mich außerhalb des Kreislaufs. Oder genauer gesagt, da die Gruppe sich nicht mehr durch mich individuiert, individuiere auch ich mich nicht mehr. Auf diese Weise unterscheiden sich das Selbst und das Ich voneinander: Das Ich bleibt, es ist da, aber es ist leer und durch diese Abwesenheit des Selbst umso schwerer und präsenter.

Heutzutage werden im großen Stil industrielle Techniken zum Einfangen der Affekte entwickelt - Monteverdi war einer ihrer großen Theoretiker und Praktiker: Die Musik der Affekte, die auch eine Art vertonte Theorie der Affekte ist, ist eine Praxis des musikalischen Zeitobjekts, das sich selbst nicht als solches denkt, aber begreift, wie die musikalische Zeitlichkeit den Affekt einfangen kann, um ihn aufzuhalten und in gewisser

Weise festzuhalten oder um ihn zu befreien. In der Musik Monteverdis funktioniert der Befreiungsprozess genau wie in der religiösen Musik, wenn auch bei letzterer in Verbindung mit der Zuwendung, die der Offiziant den Seelen zute il werden lässt, die er wie seine schäflein pflegt, wobei man hier die Widersprüchlichkeit, die allen diesen Fragen zugrunde iegt, erkennt: wie die Heilung zur Herde führen kann.

Bei den audiovisuellen und industriellen Zeitobjekten, für die das Fernsehen ein spezielles Beispiel ist, passiert etwas ganz anderes: Auch wenn auf dieselbe Macht der Zeitobjekte zurückgegriffen wird, nutzt man sie hier, um die Libido auf eine Art und Weise zu kanalisieren, dass sie kein Selbst mehr hervorbringen kann, mich meiner selbst beraubt und auflöst, indem sie mich auf meine triebhafte Natur red uziert: Das Ziel ist von Anfang an und ausschließlich Herden bild ung.

Ein Zei tobj ekt ist ein Aggregat primärer Retentionen: Die Note einer Melodie Jewahrt die ihr vorangegangene Note in sich, um wie diese Note zu klingen, und das so Bewahrte (die vorangegangene und ve rgangene Note) bleibt in der Note gegenwärtig, die sie bewahrt. Aus diesem Grund spricht Husserl von einer primären Retention. Diese primäre Aggregation wird durch das Bewusstsein, dessen Gegenstand die Melodie ist, vollzogen. Dieses Bewusstsein wird wiederum von seinen eigenen Erinnerungen und seiner Erfahrung strukturiert, die ein Geflecht sekundärer Retentionen konstituiert. Das Bewusstsein trifft dann dem Inhalt seiner sekundären Retentionen entsprechend eine Auswahl an primären Retentionen: Daher unterscheidet sich die Musik, die ein Bewusstsein jeweils in einer Melodie hört, von der jedes anderen Bewusstseins.

Es gibt jedoch auch tertiäre Retentionen, objektivierte Formen der kollektiv en Erinnerung, die es ermöglichen, das zwischen primären und sekundären Retentionen stattfindende und wirkende Wechselspiel zu gestalten. Die tertiären Retentionen können mwohl Werke der Kunst oder des Geistes als auch Radio- oder Fernsehsendungen sein. Letztere zielen darauf ab, die sekundären Retentionen so zu gestalten, dass sie sich alle ähneln, wenn nicht gar identisch werden.

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Das Fernsehen hegemonisiert als Kontrolltechnologie den Zugang zu den tertiären Retentionen, damit diese eine Standardisierung der sekundären Retentionen ermöglichen (während diese die tertiären Massenretentionen verinnerlichen). Die Werke der Kunst zielen hingegen darauf ab, die Singularität der sekundären Retentionen zu intensivieren. Diese strukturieren die psychischen Individuen als Echos der Singularität und der Alterität, die in den tertiären Retentionen verborgen ist, wobei diese wiederum das präindividuelle Potenzial der sozialen Individuation strukturieren.

Wenn das Selbst die Singularität dessen verliert, durch das es strukturiert wurde, verschlechtert sich seine Laune: Es spürt, wie es sich desindividuiert. Das kann wiederum dazu führen, dass sich das Selbst in dem verliert, was es verwirrt und ihm noch schlechtere Laune bereitet - wie zum Beispiel die Fernsehbilder, die heutzutage auf dem Prinzip der grenzenlosen Ausweitung des industriellen Populismus beruhen.

Das Fernsehen ist jedoch das Schicksal der zeitgenössischen, psychosozialen Individ uation. Daher muss man das Selbst auf der Grundlage der Bilder erarbeiten, die es in Umlauf bringt und die diesen Kurzschluss verursachen, in dem sich das Selbst in seiner schlechten Laune verliert. Darin besteht die Arbeit Converts, der das verfolgt, was in diesem Kurzschluss trotz alledem den ausgedehnten Kreisläufen entspringt, die die psychosoziale Individuation des Okzidents der Bilder strukturieren.

Ein Werk kommt dem Selbst zur Hilfe, indem es dieses öffnet, es vertreibt seine schlechte Laune, in der es sich verliert und nicht mehr es selbst ist - in der es paradoxerweise ausgerechnet dort, wo es ja gerade es selbst bleiben, an seiner Identität, an diesem Ich festhalten will, das eben dadurch geleert, blockiert und der Fähigkeit beraubt wird, sich zu individuieren, nicht mehr es selbst ist. Dass wir die Dinge in Abhängigkeit von unseren Erwartungen wahrnehmen, dass wir das, was uns widerfährt, selbst verursachen, ist uns allen bewusst, wenn wir, sobald wir schlecht gelaunt sind, alles schwarz sehen, die ganze Welt uns im Stich lässt und wir sie hassen. Aus dieser sehr alltäglichen Erfahrung muss man die Lehre ziehen, dass mir die Tatsache, dass ich alles schwarz sehe, noch schlechtere Laune bereitet und ich alles noch schwärzer sehe: Die schlechte Laune verfügt über die dynamische Struktur einer derartigen Spirale.

Die Werke behandeln diese Art Erkrankung, die das Wesen unserer Seelen ist und die der triebhafte Kapitalismus und der industrielle Populismus, auf denen die politischen Populismen wuchern, nunmehr systematisch ausbeuten, indem sie einen riesigen Kurzschluss verursachen, der den Komplettausfall der libidinösen Energie zur Folge hat. In diesem Kurzschluss legt Convert den ausgedehnten Kreislauf einer präindividuellen Natur frei, die der Teilung vorausgeht, bei der nach Gottes Tod die Bilder, die aus diesem Kult, der den Bilderkult verbietet, hervorgegangen sind, der verkohlten Wurzel des westlichen, psychosozialen lndividuationsprozesses Ausdruck verleihen, wobei der im Fernsehen übertragene Islam die entsetzten Bilder liefert.

Ein Kult dient der Organisation kollektiver lntentionalitäten, und es gibt keine Gesellschaften ohne derartige Organisationen. Nach Gottes Tod ist die Erinnerung Gegenstand neuer Kämpfe für andere Organisationen, die das Werk Pascal Converts auf dem Mont Valerien zelebriert. Der Kult der Toten, der Helden, deren Werke Abgesandte sind (das ist der Übergang vom Heldentum der Individuation zur Transindividuation), ist die Erweiterung eines Kreislaufs, in dem die Madonna von Bentalha begriffen ist, als Krise der Bilder und Schrei der Bilder, die wie noch nie in dem Leiden aller Kulte aufschreien.

Convert ist ein Mann der Kunst, also der Veräußerlichung, der den Aufschrei der Triebe in ein Verlangen nach Ausdruck umwandelt, der sich der Erfahrung und ihres Geschrei annimmt, und zwar mithilfe seiner geduldigen und entsetzten Erfahrung der tertiären Retentionen, ohne die es weder Werke noch Kreisläufe gäbe.

Die Kunst ist ein Tun. So verfolgt sie zwischen den Baumstümpfen, dem Wachs, der Wiederkehr der Bilder der religiösen Kunstgeschichte, den Videobildern der Erschossenen und zivilen Opfer von gestern und heute sowie der Abtastung der Fernsehbildschirme, die jegliche Möglichkeit eines Bilds vertreibt und wo es doch darum geht, ein Bild neu zu erfinden, so wie man früher dachte, das Heilige Kreuz freizulegen, ihr curriculum und bearbeitet die Geschichte mit dieser verwaisten Frage:

Was tust du eigentlich?

Bernard Stiegler

1 - J’ai déjà abordé ce thème de l’image qui rend aveugle dans le dernier chapitre de De la misère symbolique 1. L’époque hyperindustrielle, à propos d’un film de Bertrand Bonello, Tiresia.

2 - Dans De la misère symbolique 2. La catastrophè du sensible, Galilée, 2005.

3 - Je dois ici préciser que j’ai finalement choisi d’écrire ainsi ce mot d’existance après avoir hésité puis renoncé à le faire dans Constituer l’Europe (Galilée, septembre 2005) : j’opte ici pour ce a à la suite d’un échange avec … au cours d’une réunion de l’association Ars Industrialis qui s’est tenue au théâtre de la Colline à Paris le 18 juin 2005.

4 - Je développe ce thème à partir d’Aristote dans le premier chapitre de De la misère symbolique 2.

5 - Dans De la misère symbolique 2.