pascal convert

1998 - 2005

Lamento

 

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Lamento est un recueil de cinq textes tirés de l'ouvrage du même nom, édité par le Musée d'Art Moderne Grand-Duc Jean, (Mudam Luxembourg), à l'occasion de l'acquisition du Musée des trois sculptures de Pascal Convert autour de la question de la photographie de presse.


Dass ich diese Zeilen an der Nordsee in einem Land voller Dünen und umgestürzter Bunker schreibe, während ich über Pascal Converts Werke nachdenke, ist vermutlich der Grund, weshalb mir seine archäologischen Arbeiten in den Sinn kommen. So legte er an der baskischen Küste nicht die Grundrisse betonierter, geometrischer Befestigungsanlagen frei, sondern die von Villen von exotischer und erlesener Architektur. Die Bunker wurden durch ihr eigenes Gewicht zerstört, da sie für die Sandhügel, die sie tragen sollten, zu schwer waren. Sie rutschten ab, die Betonplatten brachen auseinander, stürzten zum Teil die Abhänge hinunter und sind heute nichts weiter als im Sand oder im Wasser versunkene, kubistische Bruchstücke. Converts Villen hingegen wurden zunächst von der Erosion, dem Abbröckeln der Felsen und dem fortschreitenden Landraub durch das Meer bedroht und dann zerstört. Diese Geschichten ähneln sich nur entfernt und insofern, als es sich um Zeitgeschichten, um Zerstörungsgeschichten handelt. Und folglich um Erinnerungsgeschichten, um Geschichten von Überresten und Ausgrabungen - so wie es Converts Werke, die Wachsskulpturen ebenso wie die auf die Wände gezeichneten Gespenster der Villen, seine Körperabdrücke oder die Baumstümpfe sind.

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Um der Einfachheit willen, was wie in jedem anderen Fall kritisch zu betrachten ist, könnte man behaupten, dass jedes seiner Werke einer Gleichung mit drei Unbekannten, einer Formel mit drei aufeinander prallenden oder sich vereinigenden Kräften entspricht: die Kraft, die erbaut, natürliche oder kollektive Kraft, die von einer oder mehreren Maschinen gestützt wird; die Kraft, die zerstört, eine meist blinde Kraft, die man noch für eine natürliche Kraft halten könnte, sei diese Natur nun die der Dinge -die großgeschriebene Natur - oder die der Menschen und ihrer Systeme; und die hartnäckige und schwache Willenskraft eines Mannes - des Künstlers-, der sich weigert, in einer der genannten Kräfte aufzugehen, und weder lediglich „reine" Produktion noch „bloße" Natur sein will.

Jedes dieser Worte bedarf weiterer Erläuterungen, die so weit wie möglich und in dem Wissen, dass ein solcher Interpretationsversuch alles andere als neutral ist und sein Autor großen Anteil daran hat, gegeben werden sollen. Wenn er mit den Werken des Künstlers und dem, was er über ihn weiß, schreibt, schreibt er ebenso mit dem, was er selbst ist und was er davon weiß - oder nicht weiß.

Was sind diese Wachsskulpturen, die Convert entworfen und über mehrere Jahre hinweg umgesetzt hat? Ursprünglich sind es Bilder, Fotografien oder Ausschnitte aus einer Filmreportage. Das Wort „Bild", das heutzutage ständig und in Diskursen jedweder Art verwendet wird, muss als unzureichend betrachtet werden - zumal die „Bilder", mit denen Convert arbeitet, nicht nur und nicht einfach die visuellen Darstellungen eines bestimmten Moments der Zeitgeschichte sind. Sie haben eine Geschichte, einen Ursprung, eine spezifische Definition, weil sie einer Gesellschaft der Bilder angehören, und zwar der unseren, die, will man sie verstehen, mit keiner anderen verglichen werden kann,- und vor allem nicht mit früheren Gesellschaften, deren Darstellungen Gemälde oder Skulpturen sind.

Sich lediglich an das zu halten, was das Auge wahrnimmt, hieße, die Umstände und den Kontext unberücksichtigt zu lassen. Es hieße, sich vorschnell damit zufrieden zu geben, was die Beinamen suggerieren, die man zwei der Fotos verliehen hat, Pieta und Madonna, Beinamen, die sie in eine christliche, sich über mehrere Jahrhunderte erstreckende Ikonographie einordnen - und das im Hinblick auf ihre Ausdrucksformen auch mit vollem Recht. Doch diese Beinamen verleiten zu Vergleichen, die einen, gibt man nicht Acht, zu der Annahme bewegen könnten, diese Darstellungen seien, da es sich um eine Pieta und eine Madonna handelt, „wie" die Pietas und Madonnen der Kunstgeschichte, wie ein Pontormo oder ein Caravaggio. Und das ist keineswegs der Fall. Ein Pontormo und ein Caravaggio sind definitionsgemäß unmittelbar und ohne jeden Zweifel als Kunstwerke erdacht worden: Freskogemälde oder Ölbild auf Leinwand, für die Sammlung eines Kunstmäzens oder die Wand einer Kapelle, sie sind in dem Augenblick ihrer Ausführung von zwei verschiedenen Urteilen abhängig, von dem ihrer religiösen Orthodoxie und dem ihrer künstlerischen Qualität, die nach zahlreichen, sich ergänzenden oder sich widersprechenden, der Gemeinschaft der Kunstliebhaber bekannten Kriterien bestimmt werden kann

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Merillons und Hocines Fotos sind ihrer, wenn man so will, fachlichen Definition entsprechend Informationselemente, die für eine möglichst sofortige und weite Verbreitung bestimmt sind. Sie sind von einem direkten, politischen Urteil abhängig - da eine Machtoder Zensurinstanz über die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßgikeit ihrer Veröffentlichung befindet-, von einem indirekten, politischen Urteil, in das sich Moral mischt - und zwar die der Leser, je nach dem, welche Emotionen sie in ihnen hervorrufen - , und von dem Urteil der Medien - die den Urhebern dieser Fotos unter Berücksichtigung ihrer Schlagkraft und ihrer Wirkung verliehenen Preise. Sie werden jedoch nicht, jedenfalls nicht zu Anfang ihrer Existenz, als Kunstwerke betrachtet, sofern man darunter Objekte versteht, die innerhalb eines Bildungs-, Vergütungs- und Reputationssystems geschaffen wurden, das sich seit der Renaissance entwickelt hat. Diese Pieta, diese Madonna sind keine einzigartigen Meisterwerke, sondern Bilder, die mehrere hunderttausend Mal abgezogen wurden, wie zur gleichen Zeit noch viele andere. Die Einzigartigkeit ist das Grundprinzip eines Pontormo oder eines Caravaggio - die Einzigartigkeit eines wertvollen, eigenhändig geschaffenen Objekts. Das Funktionsprinzip eines Merillon oder eines Hocine ist hingegen die Vervielfältigung-doch schon allein beim Gebrauch dieses Ausdrucks spürt man, dass er nicht richtig passt, dass es unüblich ist, über ein Foto in derselben Art und Weise wie über ein Gemälde zu sprechen. Hier geht es natürlich um die Reproduzierbarkeit

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Diese Reproduzierbarkeit lässt sich jedoch nicht außerhalb des industriellen Kommunikationssystems begreifen, da sie eines seiner Merkmale und Erfordernisse ist: Es muss an den Mann gebracht werden. (Was man von einem Gemälde von Caravaggio, ganz zu schweigen von einem Fresko, natürlich nicht erwartet: Nicht sie mussten an den Mann gebracht werden, sondern die, die sie sehen wollten, mussten zu ihnen kommen oder sich mit Stichen begnügen, die, so gelungen sie auch sein mochten, nur den Anspruch erheben konnten, Notbehelfe oder pädagogische Hilfsmittel zu sein.) Merillons Pieta, Hocines Madonna und die Sequenz des Todes von Mohammed haben die Runde gemacht: Zeitschriften, Titelblätter, Sendungen, Wiederholungen derselben Ausschnitte. Sie sind im System der Informationsbilder den normalen Gang gegangen, den der Maschinen und der Zahlen: die Druckvorlagen, die Umbrüche, die Druckereien, die Fernsehnachrichten, die Netzwerke. Wenn man ihre Echtheit in Zweifel gezogen hat - in Hocines Fall sogar aufs Heftigste-, dann nicht, weil man sicher gehen wollte, dass der Name des Fotografen auch der richtige ist, sondern weil man den Verdacht hegte, dass das Bild inszeniert worden sein und Betrug im Hinblick auf die Prinzipien einer authentischen Reportage vorliegen könnte, die zeigen soll, was sich wirklich an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit abgespielt habt.

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Die Frage nach der faktischen Authentizität des Sujets - die im Falle eines Gemäldes absurd wäre, da Caravaggio nicht beweisen musste, dass die Bekehrung des Heiligen Paulus tatsächlich stattgefunden hat, ist als solche untrennbar mit dem mechanischen Status dieser Darstellungen verbunden. Wurden der Fotoapparat oder die Videokamera möglicherweise dazu benutzt, Ereignisse, die nie stattgefunden haben, real erscheinen zu lassen? Liegt womöglich Verfahrensmissbrauch vor, anders gesagt, Fälschung, Irreführung, Manipulation? (Dieses letzte Wort ist an sich interessant: manipulieren, vom französischen manipuler, also handhaben, wird heutzutage synonym mit täuschen verwendet, während das französische Wortmachination (Intrige, Ränkespiel), das zuweilen besser passen würde, allmählich aus dem Sprachgebrauch verschwindet, so als wäre die Hand eindeutig auf der Seite des Falschen und die Maschine auf der des Wahren, insbesondere auf dem Gebiet der Bilder.) So werden verschiedene Begriffe nebeneinander gestellt, wenn nicht gar miteinander verbunden: die faktische Authentizität der ursprünglichen, mechanischen Darstellung, die mechanische Wirkungssteigerung des Bildes und seine unmittelbare, öffentliche Schlagkraft. Im Gegensatz dazu beruhte das frühere malerische Werk auf der Autographie des Objekts, auf seiner kostbaren Einzigartigkeit und der Langsamkeit seiner Verbreitung.

Dies gilt auch für das Vokabular von Duchamp: die moderne Exoterik gegen die Esoterik früherer Zeiten. Die Exoterik ist untrennbar mit dem verbunden, was hier als industrielles System der Darstellung bezeichnet wurde.

(An diesem Punkt der Analyse kommt mir eine Anmerkung in den Sinn, eine Anmerkung biographischer Art. Convert gehört von allen lebenden französischen Künstlern zu denen, die dieses System am besten kennen. Wie entsteht ein Fernsehbild und wie wird über sein Schicksal entschieden, wie verkauft sich ein Bild und wie verkauft es sich nicht, das Urheberrecht, die Informationsverwaltung und ihre Abrechnung, alles Probleme, mit denen er vertraut ist. Manchmal hinterlässt er im Gespräch den Eindruck, er habe vom Umgang der Medien mit irgendeinem aktuellen Thema nichts mitbekommen und nichts verstanden, dass er ein unaufmerksamer und unbedachter Zuschauer gewesen sei, weil er nicht ausreichend hingesehen, nicht ausreichend verglichen, nicht ausreichend über das nachgedacht habe, was man ihm in der Presse und im Fernsehen gezeigt hat. Convert ist ein Mann des Mechanismus der Bilder, den er mit dem diskreten Können eines Experten b.eherrsc~t. Man muss ihn nur in der Rolle des Reporters beobachten, wenn er zum Beispiel eine offizielle Zeremonie filmt oder ein Interview führt, um mit Sicherheit sagen zu können, dass seine Vorgehensweise auf der praktischen und theoretischen Kenntnis dieses Systems gegründet ist. Ein weiteres Indiz anderer Art könnte dies, falls notwendig, ebenfalls bestätigen: Convert verwendet keine dieser globalen und festgefahrenen Formulierungen, die diejenigen übermäßig im Mund führen, die nur ein grobes Verständnis der Dinge haben. So spricht er zum Beispiel nicht von einer „Gesellschaft des Spektakels".)

Serienbilder also, Bilderserien und ein Wort, das dieses System dominiert, die Produktion. Damit das Bild an den Mann gebracht werden kann, muss es produziert werden. Dafür gibt es Betriebe, Einheiten und Spezialisten. Es gibt auch „ Wohneinheiten", „Riesenbetriebe" und Spezialisten für alles, vom Marketing bis zur Formatierung, von der Werbung bis zum „Ereignismanagement". Weiter auf diesem Punkt zu beharren, ist unnötig: Man kann sich kaum einen Leser oder eine Leserin vorstellen, der oder die nicht dem Konsum von Gütern jedweder Art, die natürlich als „Produkte" bezeichnet werden, besessen ist, wobei ein Film und ein Buch im selben Maße Produkte sind wie ein Auto und ein Telefon. Diese Faszination des Produkts geht Hand in Hand mit der Faszination des Profits - wozu es nach so vielen herausragenden Autoren noch wiederholen, deren herausragendes Talent für die Welt, die sie beschrieben und anprangerten, zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr bedeutet hat. Die Pieta des Kosovo, die Madonna von Algier, der Tod eines palästinensischen Kindes, nichts hindert uns daran, auch diese als Produkte zu betrachten - und sogar als „Teaser" für das Cover eines Buches oder um die Fernsehnachrichten zu „eröffnen", wie man einen Ball eröffnet. Diese Vergleiche widern Sie an? Geben Sie nicht dem Autor die Schuld, sondern der Welt, so wie sie sich in den letzten Jahrzehnten, die bald ein ganzes Jahrhundert ergeben, wenn wir den hundertsten Jahrestag des Ersten Weltkriegs begehen, entwickelt hat. Dieser Krieg spielte dabei eine wesentliche Rolle: Er stellte zugleich die Weichen für die Industrialisierung menschlichen Gemetzels und die Einrichtung einer demokratischen Industrie des Nachrichtenbildes, die damals wie heute die Sensation, das Entsetzen und das Morbide für sich ausschlachtet. Nachdem man mit Convert einen Abend lang eine Sammlung von Ausgaben der Wochenzeitschrift Le Miroir aus den Jahren 1914 bis 1918 durchgeblättert hat, besteht kein Zweifel mehr, dass er genau weiß, was daraufhin geschehen ist und welche neue Definition des Bildes „dank" Verdun, der Somme und Ypern aufgekommen ist.

Le Miroir also: eine Wochenzeitschrift bestehend aus Bildern und den Meldungen des Generalstabs als einzigen Text. Oder Match, eine andere Wochenzeitschrift des „Schocks der Bilder", eine der Besten unter denen, die am kräftigsten und am tiefsten zuschlagen. Und die Fernsehnachrichten, ganz gleich welcher Sender, ganz gleich welches Land: tägliche Ausgaben. Was bewirken diese Bilderfluten, dieser regelmäßige und wiederkehrende Rhythmus? Zuerst Gewöhnung. Dann Gleichgültigkeit und Vergessen. Ihre Bilder sind in der alltäglichen Zeit, der Zeit jeden Tages. Sie gehören ihr aus mindestens zwei Gründen an: weil sie sie repräsentieren - sie sind „Aktualität" - und weil sie ihrem Rhythmus gehorchen. Jeder Tag, die Bilder jeden Tages. Sie folgen nicht eins aufs andere, sie sammeln sich nicht an: Sie werden ausgetauscht. Diese Austauschfunktion ist sogar ganz wesentlich. Zwischen den Vorstellungen stehen sie in ständiger Konkurrenz zueinander und überbieten sich gegenseitig, wobei grundsätzlich gilt: Das Bild, das den stärksten Schock verursacht, behauptet sich gegen dasjenige, dessen Wirkung als geringer eingeschätzt wird, während man darauf wartet, dass ersteres durch eine noch brutalere Nachricht verdrängt wird. In Le Miroir haben die unmittelbaren Umstände die Zielsetzung vorgegeben: dass der Tod im Kampf so sichtbar und so schnell wie möglich fotografiert wird, genau in dem Augenblick, wenn die Kugel trifft oder die Explosion passiert. Dass die Kamera im Gleichklang mit dem Tod arbeitet. Die Soldatenreporter riefen einen Wettbewerb ihres eigenen Todes aus, mit einer hohen Belohnung für den frappierendsten Abzug. Ergebnis: Anhäufungen von Leichen auf den Seiten, Momentaufnahmen, die mehr oder weniger gefälscht waren, dann, 1916, der „Knüller" schlechthin: die in einem Bombenkrater übereinander getürmten Leichname eines deutschen und eines französischen Soldaten, ein hübsches Foto für die Titelseite der Zeitschrift.

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Davor hatte man die halb verkohlten und verstümmelten Leichen von Frauen gezeigt, die in Serbien vergewaltigt worden waren. Danach, immer noch in Le Miroir, folgt nur noch die ständige Wiederholung des Todes und seiner Stilfiguren: der lebendig Begrabene, der mit ausgerenkten Gliedern in einen Baum Geschleuderte, den Kopf in der Erde, mit entblößtem Knochen unter den Fetzen der Uniform [Abb. 6, S. 116]. Man hat sich schnell daran gewöhnt: jeden Sonntagmargen an die vierzig Bilder, um erneut das visuelle Vergnugen des vorherigen Sonntags zu verspüren. Für das Totenbild und das Sexbild, dessen Anforderungen die pornografische Fotografie ab den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts festlegt, gilt dieselbe Regel: die möglichst vollständige Sichtbarkeit des Motivs und das so eindeutig wie möglich. Das heißt im ersten Fall, ein Mann, als ihm gerade das Projektil die Brust oder den Bauch aufreißt, und im zweiten, eine Frau, als sie gerade die Schenkel öffnet, um ihr Geschlecht als Ganzes zur Schau zu stellen. Je nach Zielpublikum sind durchaus Varianten möglich, aber das Prinzip bleibt das gleiche.

An diesem Punkt der Analyse drängt sich eine dem Anschein nach völlig dumme Frage auf. Wenn bekanntlich seit dem zweiten französischen Kaiserreich im Bereich des Obszönen und seit dem Ersten Weltkrieg in dem des Morbiden die eindeutigsten Bilder existieren und großzügig (sowie gewinnbringend) kommerzialisiert wurden, warum werden dann immer noch so viele hergestellt? Aus demselben Grund, warum ein Paar selten nur ein einziges Mal miteinander schläft, sondern es so lange immer wieder tut, wie es ihm danach verlangt. Diese Neigung zur Wiederholung, die sowohl das visuelle als auch das sexuelle Vergnügen nicht nur betrifft, sondern auch definiert, bezeichnet man als natürlich (nicht notwendigerweise als menschlich). So wie produziert wird, wiederholt wird und sogar derart Spaß an der Wiederholung gefunden wird, dass man allmählich zu dem Schluss kommt, die Wiederholung sei das Gesetz der Begierde. Diese Wiederholung postuliert, man „müsse" wieder von vorne anfangen und somit, dass das, was war, von geringerer Bedeutung ist, als das, was noch kommen wird, selbst wenn es sich um ein einzigartiges Objekt handelt. Glückliche Wiederkehr des Identischen.

Anders ausgedrückt, das System des heutigen Bildes ist wie das der alltäglichen, sexuellen Beziehungen, wie das des täglichen Neubeginns und somit auch wie das der täglichen Löschung. Nur dass die Bilder nicht bloß Instrumente einer unmittelbaren und schnell verblassenden, visuellen Befriedigung sind. Und dennoch: Jeden Tag sind die neuen Bilder des neuen Tages überall zu finden, und tags darauf sind sie schon nichts mehr und haben sich in Luft aufgelöst - wenn man einmal von den wenigen „Käuzen" absieht, die unermüdlich ausschneiden und aufnehmen, um der Amnesie entgegenzuwirken, die dieses System fordert-, man hätte noch „gegen seinen eigenen Willen vielleicht" hinzufügen können, doch dann erinnert man sich noch rechtzeitig an die Aussage, dass es die wirtschaftliche Aufgabe des Fernsehens ist, im menschlichen Gehirn ein leeres Zeitfenster zu produzieren - und wieder dieses Wort - und es an die Werbekunden zu verkaufen.

(An dieser Stelle sei ein zweiter Exkurs biographischer Art erlaubt. Während meiner Recherchen über den Ersten Weltkrieg machte mich ein befreundeter, bedeutender Fotoreporter - Zufall? Bestimmt nicht - mit dem Schriftsteller Yves Gibeau bekannt, der sich entschieden hatte, unterhalb des Chemin des Dames, unweit der Überreste von Craonne, das während des Ersten Weltkriegs völlig zerstört worden war, zu wohnen. Dort streifte er durch die Wiesen und Wälder und sammelte Gefechtsüberbleibsel ein: krumme Gewehrläufe, durchlöcherte Helme, unversehrte Granatenhülsen. Das war eine seiner Alltagsbeschäftigungen. Eine weitere war, Romane zu schreiben. Es gab auch noch eine dritte, wie sich erst nach seinem Tod herausstellte: Gibeau nahm ganz pedantisch auf Hunderten von Kassetten die Fernsehnachrichten auf. Die Kassetten datierte er dann und sammelte sie genau wie seine Bücher und seine lächerlichen, verrosteten Schlachttrophäen. Die sinnlose Beschäftigung eines zurückgezogen lebenden Archivars. Eine ganz und gar logische und notwendige Beschäftigung: Er setzte eine einzigartige Strategie gegen das Vergessen ein, gegen das Vergessen der im Jahre 1917 Erschossenen, gegen das Vergessen der Henker und Opfer des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Der alltäglichen Zeit hielt er kleine, nahezu lächerliche Mittel entgegen, die aber ausreichten, um den eigenen Kopf, so wie man ihn über Wasser hält, über dieser Zeit zu halten. Gibeau ist heute fast gänzlich in Vergessenheit geraten, was einen seitens einer Gesellschaft kaum überrascht, die niemanden so sehr verabscheut, wie diejenigen, die „schlechte" Erinnerungen bewahren.)

Amnesie also. Die Produktion und das Vergnügen funktionieren durch Amnesie. Außerdem verursachen die Verbreitung der Bilder und ihr anhaltender Konsum auf kurze Sicht, dass wir der Erinnerungen überdrüssig werden: Sie sind zu zahlreich, zu verschieden, zu schnell. Wie viele Bilder ziehen im Laufe einer Fernsehnachrichtensendung in rasendem Tempo vorbei, um den Überdruss eines Zuschauers zu vermeiden, der angeblich sofort umschaltet, sobald seine Aufmerksamkeit nicht mehr ausreichend gefesselt ist? Und in einer Wochenzeitschrift? Man hat nicht einmal mehr die Zeit, sich über ihr Genre Gedanken zu machen, und nicht wenige Fernsehzuschauer können sich höchstwahrscheinlich nur mit größter Mühe daran erinnern, welche Bilder vom Vorabend aus einer Reportage oder einem Dokumentarfilm und welche aus einem Spielfilm stammen. Die unterschiedlichen Genres nähern sich an und gehen allmählich ineinander über. Es läuft ein langes Band ab. Die Fakten, ihre Interpretation, es fehlt die Zeit, um sich für sie zu interessieren. Die chronologische Ordnung schwindet, die Bedeutungsrangfolgen haben seit langem jedwede Autorität verloren und die Ergebnisse einer Fußballmeisterschaft sind wichtiger als Kriege und Revolutionen in Ländern, die zu weit entfernt liegen, damit ihre Katastrophen ein europäisches Publikum fesseln könnten.

Durch die Hervorhebung dieser Punkte soll nahe gelegt werden, dass dieses Bildersystem eine ganz bestimmte Zeitlichkeit hervorbringt, eine Zeitlichkeit nämlich, die fortlaufend, gleich bleibend und unbeachtet ist. Anders gesagt, die Zeitlichkeit des Alltags, ohne Zwischenfälle, ohne Unterbrechungen. Wie die des Sex, so bereits erwähnt. Oder die der Ernährung, in wohlhabenden Ländern, in denen man sich ganz einfach ernähren kann. Diese Zeitlichkeit ist die einer regelmäßigen Löschung und beunruhigt niemanden: Es ist „ganz natürlich", so wie es eben natürlich ist, dass die Nachrichten vom Freitag die vom Donnerstag überlagern - so wie es natürlich ist, dass sich die Sedimente absetzen und sich Schicht für Schicht am Grund der Flüsse überlagern. Das ist der Gedanke, auf den wir hinaus wollten. Die mechanische Industrie der Bilder, dieses ungeheure, absolut künstliche Produktionssystem funktioniert nunmehr wie die Natur im geologischen Sinn des Wortes. Ebenso wie nur außergewöhnliche Katastrophen - Erdbeben und Vulkanausbrüche - die Macht haben, den Verlauf der Sedimentation und der Erosion zu unterbrechen und zu verändern, so haben auch einzig und allein außergewöhnliche, menschliche Katastrophen die Macht, einen Augenblick lang den Verlauf der Produktion und des Vergessens der täglichen Bilder zu unterbrechen. Allerdings müssen diese Tragödien dem Zuschauer auch nahe genug gehen, damit er sich in sie hineinversetzen kann. Denn fehlt es an dieser Nähe, werden die schlimmsten Unglücksfälle sehr schnell zu bloßen Fotografien, die lediglich aufgrund ihrer visuellen und technischen Qualitäten geschätzt werden.

Was ist dann Converts Platz, seine Arbeit angesichts dieses Systems? Die Flut, soweit es ihm möglich ist, aufhalten, das langsame, irreversible Phänomen bremsen, durch die Archäologie versuchen, das Vergessen zu verweigern. Er hat praktisch noch nie etwas anderes getan, und gerade deshalb habe ich eingangs sein merkwürdiges Interesse an den verlassenen Villen an der baskischen Küste erwähnt, die dazu verurteilt sind, durch die Wellenerosion zerstört zu werden. Die Wurzeln der durch Granaten gefällten Bäume, der durch nukleare Verstrahlung versteinerte Baum, die der Vernichtung geweihten Gesichter und Körper - er versteift sich darauf, sie ihrem Schicksal entreißen zu wollen. Wie die Erschossenen vom Mont Valerien, wie die Widerstandskämpfer der MOi (Main d'Oeuvre Immigree), wie all diejenigen, die von Gleichgültigkeit, Faulheit, Feigheit und Dummheit verdammt werden, ohne dass sie es auch nur bemerken.

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Und somit auch wie einige Bilder der Trauer, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren würde, hätte er sich ihrer nicht angenommen: Sie würden verblassen. Dann wüsste bald niemand mehr, was auf ihnen zu sehen ist, ein Toter im Kosovo oder in Bosnien, eine weinende Frau in Algerien oder in Afghanistan, ein erschossenes Kind in Palästina oder in Tschetschenien ... Welche Bedeutung hat es noch, wenn alles sich vermischt, gleicht, aufhebt und vergessen wird?

Eine moralische und damit eine politische Bedeutung. Damit man noch zwischen den Henkern und den Opfern und zwischen den Schuldigen und den Unschuldigen unterscheiden kann. Die Verfolgungen, denen Hocine ausgesetzt war, weil er dieses Foto gemacht hat, sind diesbezüglich ausgesprochen aufschlussreich - aber sie informieren nur über die Situation eines Landes, das weder demokratisch noch reich noch westlich ist. In einem reichen und demokratischen westlichen Land greift dieses Phänomen auf andere Weise: durch die Übersättigung, die Überproduktion und die Wiederholung, wie bereits ausgiebig besprochen. Aber ohne bisher zu bestätigen, dass diese Merkmale sich stark auf das auswirken, was vom politischen Leben und der politischen Intelligenz übrig ist. Das Bild überall und für alle - die Demokratie des Bildes - das ist auch das Bild für sich selbst und für nichts. Keinen Sinn, keine Schlussfolgerung. Es zieht rein zum Vergnügen vorbei. Dem hält Convert auf äußert brutale Art ein Anhalten auf dem Bild entgegen: Er zwingt den unaufmerksamen Betrachter dazu, mit Kopf und Brust voran in eine Mauer und in Statuen zu rennen, wobei er sich nur stoßen und verletzen, den Mund halten oder schreien, aber nicht plaudern, abrupt stehen bleiben oder umkehren, aber ihnen nicht knapp ausweichen kann. Alles erstarrt: die visuelle Flut, der Rhythmus Produktion/Konsum/ Vergessen, die Gewohnheit des schnellen Vergnügens, das man so bald wie möglich wiederholen muss.

„Der stumme Block gestürzt aus eines Sterns Zerfall." Mailarmes Vers wies auf das Gedicht an sich hin, auf sein verblüffendes Eindringen in den Alltagstrott der gemeinen Sprache - „als ihnen er den reinen Sinn genannt des Alltagsworts" - , auf seine Macht, das, was es berührt, zu zertrümmern, auf seine unbegreifliche Kraft. Es entspricht ConvertsSkulpturen, ihrem verblüffenden Eindringen in die Banalität der Bilder, ihrer durchdringenden Kraft, ihrer unerhörten himmelssteinähnlichen Fremdartigkeit.

Philippe Dagen